„Nachleben“

2024

210 x 120 cm

Material:

Ölfarbe, Leinwand, Fichtenholz

Die Notizen auf dem Zettel sind in einer besonderen Schreibschrift verfasst – „Sütterlin“. Diese Schrift war im Jahr 1911 im Auftrag des Preußischen Kultusministeriums von dem Grafiker Ludwig Sütterlin entwickelt worden. Sie wurde 1915 offiziell in Preußen eingeführt und war über die gesamten 1920er und 1930er Jahre hinweg Teil des Lehrplans in Schulen. 1941 untersagten die Nationalsozialisten das Lehren der Sütterlin-Schrift im Unterricht.

In Deutschland beherrschen heute nur noch wenige Menschen diese Schrift. Sie sterben allmählich aus. Die Person, die den Einkaufszettel verfasst hatte, musste die Schrift als Schulkind erlernt haben – und somit um die 90 Jahre alt sein. Dass solch ein alter Mensch noch selbstständig einkaufen geht, ist an sich schon eine Seltenheit.

Hinzu kommt die ungewöhnliche Auswahl der Produkte:

Das Werk „Nachleben“ beruht auf einem objet trouvé: einem Einkaufszettel, der am Griff eines Einkaufswagens befestigt war. Der Künstler fand ihn Mitte der 2010er Jahre, nahm ihn an sich und archivierte ihn – mit der Gewissheit, daraus eines Tages ein Werk zu erschaffen. Dieser Einkaufszettel wirkte wie ein Fenster in die Vergangenheit, eine Verbindung des weit entfernten Gestern mit dem Heute.

Blutorangen

Ingwer

Bierschinken

Zungenwurst

Nordthy Kekse

Schweinenacken

Die einzelnen Wörter, aus denen die Lebensmittelbezeichnungen zusammengesetzt sind, wirken wie eine klischeehafte Beschreibung des groben, rohen, männlichen „Deutschen“ der Vergangenheit: Blut, Bier, Schinken, Zunge, Wurst, Schwein, Nacken. Nur Ingwer, Orange und die dänischen Kekse der Firma Nordthy sind ein zarter, gleichsam femininer Gruß der Gegenwart.

Die Nahrungsmittel lassen sich zudem auf folgende wesentliche Nährstoffe herunterbrechen: Vitamin C, Eiweiß, Eisen, B-Vitamine und Zucker. Sie gehören zu den essenziellsten Nährstoffen überhaupt. Die Liste wirkt somit wie eine Vorratsliste für die Apokalypse, verfasst von „dem Deutschen“, der sich auf schlechte Zeiten vorbereitet, der nichts dem Zufall überlässt, der auch vor vermeintlich Ekligem nicht zurückschreckt, der auch unter härtesten Bedingungen überlebt, der sich nur selten etwas gönnt.

Der originale Einkaufszettel selbst besteht aus blauem Papier. Der Künstler greift diese Farbe auf, assoziiert sie mit dem Himmel – dem poetischen Ort des Lebens nach dem Tod. Es ist ungewiss, ob die Person, die den Einkaufszettel verfasst hat, heute noch lebt.

Das Werk „Nachleben“ setzt ihr und der Zeit, der sie entstammt, ein anonymes Denkmal.